Elizabeth Strout: Am Meer

Die zuletzt erschienen Bücher von Elizabeth Strout habe ich nicht gelesen. Warum eigentlich?
Denn ihr neuer Roman hat mich tief beeindruckt.
Er trägt den harmlosen Titel „ Am Meer“ .
Ganz leichtfüßig zieht Elizabeth Strout die LeserInnen von Anfang an in den Bann.
Nach den ersten Seiten ahnen wir schnell, dass sie hier eine Thematik behandelt, mit der wir uns eigentlich nicht beschäftigen möchten und müssen trotzdem weiterlesen.
Worum geht es?
Lucy Barton erzählt uns ihre Geschichte, die im März 2020 (!) in New York City beginnt.
Lucy ist Schriftstellerin, noch nicht lange verwitwet. Mit ihrem ersten geschiedenen Mann William, der auch der Vater ihrer erwachsenen Töchter ist, pflegt sie seit vielen Jahren einen sehr freundschaftlichen Umgang.
Beide sind über die Höhen und Tiefen des Lebens des jeweils Anderen auf dem Laufenden und nehmen Anteil daran.
William meldet sich eines Tages im März bei Lucy und drängt sie zu einer Reise.
Er hat ein freistehendes Haus in Maine gemietet, es liegt einsam auf einer Klippe über dem Meer, die Bewohner des kleinen Städtchens sind weit entfernt.
Lucy versteht anfangs den Sinn seiner Einladung nicht, doch William beharrt darauf, dass es äußerst gefährlich sein wird, in New York zu bleiben, denn ein unbekannter Virus hat sich auf seinen Weg durch die Welt gemacht.
William, der Naturwissenschaftler, hat frühzeitig den Ernst der Lage erkannt und hervorragend vorgesorgt, so dass sich die beiden ihren Spaziergängen und ihren Gesprächen widmen können.
Die Wochen und Monate vergehen und Lucy und William haben im Lockdown Muße, sich mit ihrer persönlichen Vergangenheit auseinander zu setzen und auch mit der gegenwärtigen aktuellen amerikanischen Politik.
Denn auch wenn es den Anschein macht, in diesem Roman geht es nicht vorrangig um die Corona-Pandemie.
Es ist die Zeit, in der George Floyd von einem Polizisten umgebracht wird.
Es ist die Zeit, in der die Menschen anfangen zu protestieren.
Es ist die Zeit, in der die Menschen immer schlechter mit ihrem erarbeiteten Lohn zurecht kommen.
Es ist die Zeit, in der das Kapitol gestürmt wird…
Es ist die Zeit, in der privilegierte Menschen wie Lucy und William das Gefühl beschleicht, dass Rassisten und Nazis in ihrem Land die Überhand gewinnen könnten.
Dieser Roman der Pulitzer-Preisträgerin Strout ist thematisch keineswegs überfrachtet und wirklich meisterhaft geschrieben.
Die Autorin schafft es hervorragend, die Verbindung zwischen persönlichen Sorgen und Ängsten und dem Großen und Ganzen der Gegenwart zu beschreiben.
Die Aktualität, nicht nur auf die Vereinigten Staaten bezogen, ist erschreckend.
Bitte lesen Sie dieses grandiose Buch!