Ilona Jerger: Lorenz

Möglicherweise erinnern Sie sich bei diesem Titel, genau wie ich, an den Biologieunterricht: Verhaltensforschung bei Tieren, und speziell die Prägung bei Gänsen.
Wir begegnen dem Kind Konrad Lorenz, wie er im weitläufigen Anwesen der Familie erste Erfahrungen mit allen möglichen Tieren macht: es wimmelt nur so von Gänsen, Dohlen und Hunden, der Großvater führt eine Hyäne an der Leine spazieren.
Sehr unterhaltsam und amüsant werden erste Beobachtungen mit dem Küken Martina beschrieben, die Konrad dank Prägung nicht mehr von der Seite weichen möchte.
Aber bald schon wird deutlich, wie ambivalent Lorenz´ Denken ist: als junger Mann hält er es eher mit Darwin und der aufkommenden Ideologie der Nazis, obwohl er auch sehr freundschaftliche Beziehungen zu Juden unterhält.
Nach langer Kriegsgefangenschaft in Russland kehrt er heim, schreibt mehrere Bücher und versucht, seine braune Vergangenheit abzuschütteln.
Ist es legitim, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied später den Nobelpreis zu verleihen? Kann man ein Buch über einen Verfechter der Rassenlehre schreiben, in dem er gut wegkommt, wenn auch kritisch betrachtet und als das dargestellt, was er war?
Mich hat dieses Porträt eines Mannes, der die Wissenschaft mit seinen eher unorthodoxen Methoden vorangetrieben und bereichert hat, sehr fasziniert und gut unterhalten.
Lorenz´ Leben ist gut recherchiert, die Geschichte des 20. Jahrhunderts, gespickt mit berühmten Persönlichkeiten und Ereignissen, wird hier aufgerollt und spannend erzählt.
Sie werden vielleicht beim Lesen zwischen Begeisterung und Abscheu schwanken, aber es wird Ihnen bestimmt nie langweilig werden.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

„Lichtspiel“ ist eine packende Mischung aus Fiktion und wahren Begebenheiten und schildert das Leben und Werk des Regisseurs G.W. Pabst, der neben Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau und Ernst Lubitsch zu den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik zählt.
Um den politischen Strömungen nach der Machtergreifung zu entfliehen, dreht er zunächst in Frankreich, dann in Hollywood, wo er aber auf sprachliche und künstlerische Schwierigkeiten trifft. Als er mit seiner Familie zurück in Österreich ist, um dort seine Mutter zu besuchen, wird er vom Kriegsbeginn überrascht. Eine Ausreise ist nicht mehr möglich.
Das neue Regime spannt ihn nun für Propagandafilme ein. Sehr eindrücklich und beklemmend wird geschildert, wie Angst und Ohnmacht die Menschen überall, auch bis ins eigene Heim, terrorisieren.
Besonders fasziniert hat mich das letzte Drittel des Romans, der die Entstehung des bis heute unvollständig bearbeiteten und nie vorgeführten Films „Der Fall Molander“ beschreibt.
Die Sprache ist präzise und eindringlich, die Beschreibungen wie Szenenanweisungen im Filmskript.
Ganz große Leseempfehlung!

Lynn Cullen: Die Formel der Hoffnung

In ihrem neuen Buch „Die Formel der Hoffnung“ erzählt Lynn Cullen von der Wissenschaftlerin Dr. Dorothy Horstmann, die im Amerika der 1940er Jahren alles daransetzte einen Impfstoff gegen Polio zu finden.
Die Krankheit befiel vorwiegend Kinder unter acht Jahren, führte zu schwerwiegenden und bleibenden Lähmungen und war daher der Schrecken aller jungen Eltern.
Wir haben heute weitgehend vergessen, wie groß die Angst vor der Krankheit jahrelang war, die Tausende zu einem Leben an Krücken oder gar in der Eisernen Lunge verdammte, während die besten Forscher der Welt sich ein Rennen darin lieferten, ein Heilmittel zu finden und den damit verbundenen Ruhm einzustreichen.

Dr. Horstmann setzte ihre bemerkenswerte Intelligenz, ihr Durchsetzungsvermögen und ihr Rückgrat gegen den Widerstand und die Ignoranz eines Großteils ihrer männlichen Kollegen ein, um ihre Forschungen voranzutreiben.

Auch wenn hier durchaus Parallelen zu Bonnie Garmus´“Eine Frage der Chemie“ bestehen, handelt es sich bei Dr. Horstmann um eine reale Persönlichkeit, die maßgeblich an der Entwicklung eines Impfstoffs beteiligt war.

Besonders gefallen hat mir, dass zwar auch ein (fiktiver) Blick auf das Privatleben der Wissenschaftlerin geworfen wird, dieser Strang der Geschichte aber nie die Überhand gewinnt.
Außerdem bemerkenswert sind die vielen Details, die einen guten Einblick in die Medizingeschichte und die Gesellschaft im Amerika der 1940er und 1950er gewähren.

Karin Kalisa: Fischers Frau

Karin Kalisa verbindet in ihrem neuen Roman Text mit Textil, verknüpft Seemansgarn zu Teppichen und erzählt uns ein Stück Geschichte.

Erzählt wird von Mia Sund, einer Faserarchäologin in der Gegenwart, und Nina Silke Strad, einer Teppichknüpferin am Anfang des letzten Jahrhunderts.
Die Recherche und Reise zu den Ursprüngen der Fischerteppiche wird auch eine Reise zu Mia selbst, die bis dahin eher zurückgezogen und einsam lebt.
Wir reisen mit ihr von der Ostsee nach Zagreb und zurück in der Zeit in die 1920er Jahre, erfahren einiges über Geschichte und Handwerk des Knüpfens, die schwierige politische Lage und bald geht es nicht mehr nur um die Echtheit des Teppichs, sondern um Authentizität auch im weiteren Sinn.

Was für mich den Reiz des Buches ausmacht sind die Geschichten in der Geschichte, der fließende Übergang von historisch belegten Fakten zu frei fabulierten fast märchenhaften Passagen.

Carsten Henn: Die Butterbrotbriefe

Wann haben Sie zuletzt einen persönlichen Brief geschrieben?
In Zeiten, in denen selbst E-Mails fast antiquiert erscheinen, ist das bestimmt bei vielen von uns schon lange her.

Kati, Ende 30 und geschieden, hat vor kurzem ihre Mutter verloren und braucht einen Neuanfang. Um mit der Vergangenheit abzuschließen schreibt sie Briefe an all die Menschen, die in ihrem Leben bisher eine Rolle gespielt haben – im Guten wie im Schlechten. Dazu benutzt sie Butterbrotpapier, das ihr Vater für sie gesammelt hat. Die Briefe werden nicht verschickt, sondern persönlich überbracht und vorgelesen: Katis Versuch loszulassen, Danke zu sagen und zu vergeben.
Doch dann taucht Severin auf, ein obdachloser Klavierstimmer, der Kati das Weggehen schwer macht.

Beim Lesen entfaltet sich ein Kosmos an zum Teil ungewöhnlichen Figuren, Orten und Begebenheiten und es stellt sich die Frage, ob wir unser Leben selbst bestimmen, von anderen gelenkt werden, oder ob sogar das Schicksal zuständig ist, oder doch eher der Zufall.
„Die Butterbrotbriefe“ ist ein warmherziger und humorvoller Roman vom Suchen und Finden, vom Abschiednehmen und Ankommen.

Dirk Husemann: Die Windsor-Akte

1992, London
Ein junger Student sucht nach einem brisanten Dokument, das mit seinem Großvater in Zusammenhang steht. Die Archivarin will ihm zunächst nicht helfen, erzählt ihm dann aber eine unglaubliche Geschichte:
1940, Cambridge
Ajax Doggerton wird mit einem Trick dazu gebracht, für den britischen Geheimdienst den abgedankten König Edward VIII. zu observieren, der sich mit seiner Frau in Paris aufhält. Dieser steht im Verdacht, mit den Nazis zu sympathisieren und sich mit den Deutschen zu verbünden, damit Hitler ihn wieder auf den britischen Thron setzt.
Was folgt, ist eine rasante Reise durch Europa, von Paris nach Spanien und Portugal, mit einer deutschen Prinzessin als Spionin, undurchsichtigen Regierungsbeamten, Loyalität und Verrat, Schießereien und Verfolgungsjagden. Und welche Rolle spielt Wallis Simpson, die Herzogin von Windsor?

Ein temporeich erzählter Geschichts-Krimi, voller Details und mit einer guten Balance zwischen historisch belegten Tatsachen und fiktiven Akteuren, die einen mitfiebern lassen und den Plot bis zum Schluss spannend halten.

Martin Griffin: Zwei Fremde

Das Buch hat mich direkt von Anfang an gepackt.
Die Zutaten: ein Hotel in pittoresker Highland-Lage am Ende der Saison im tiefsten Winter, der Sturm legt die Telefonverbindung lahm und Schneefall macht die Straßen unpassierbar, Lawinengefahr droht. Dazu zwei letzte Gäste: der eine mit suspektem Verhalten, die andere unauffindbar. Mit all dem sieht sich Remie an ihrem letzten Arbeitstag konfrontiert. Dann klingelt ein verletzter Polizist, PC Don Gaines, der einen entflohenen Häftling des in der Nähe gelegenen Gefängnisses verfolgt. Wenig später taucht ein weiterer Mann auf, der vorgibt, ebenfalls Gaines zu sein.
Einer von ihnen wird der Entflohene sein, mit dem Remie noch eine Rechnung offen hat. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem sich der Leser hin- und hergerissen fühlt und mal der einen, mal der anderen Person glauben möchte.

Lucy Goacher, Abgrund

Denken Sie nicht, Sie wüssten schon nach den ersten Seiten, dass der Fall klar ist: der Freund sei es gewesen.
Einzeln eingestreute Kapitel erzählen von anderen jungen Frauen, die Beziehungen zu jungen Männern vor Freunden und Familien verschwiegen haben und kurz darauf sterben.
Poppy, eine junge Studentin, wird tot aufgefunden, offensichtlich ist sie von den Klippen gesprungen. Die offizielle Version: Selbstmord wegen Depressionen.
Ihre ältere Schwester Clementine, getrieben von Schuldgefühlen, weil sie den letzten Anruf nicht entgegengenommen hat, kann diese Version nicht glauben und arbeitet um Wiedergutmachung bemüht ehrenamtlich bei einer Helpline.
Mehrere suspekte junge Männer tauchen auf: Helpline-Kollege Jude, Mitbewohner Liam, Nachbar Alexander und Daniel, der selbst eine Schwester durch angeblichen Selbstmord verloren hat. Mit ihm begibt sich Clementine auf Spurensuche...
Nach und nach wird klar, dass Clemmie das nächste Opfer sein könnte. Wem kann sie vertrauen, und sind die neuen Bekannten die, die sie vorgeben zu sein?

Linus Geschke: Die Verborgenen

Nach außen hin sind Sven und Franziska Hoffmann mit ihrer Tochter Tabea eine glückliche normale Familie. Sie leben in einem traumhaften Haus an der Küste; er ist Journalist, sie arbeitet im Kulturamt der Stadt, Tabea ist Schülerin.
Doch nach und nach wird deutlich, dass alle drei etwas vor den anderen zu verbergen haben.
Dinge verschwinden, Fußspuren tauchen auf, Geheimnisse werden angedeutet. Jeder verdächtigt die anderen, dafür verantwortlich zu sein. Dann verschwindet auch noch eine Mitschülerin der Tochter...

Die Geschichte wird abwechselnd von den drei Familienmitgliedern und in zwei Zeitebenen erzählt, so dass man die Ereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln präsentiert bekommt; eine vierte Perspektive schildert „deine“ Sicht der Dinge, was dem Roman einen interessanten Twist gibt, weil man sich als Leser*in in der Rolle des Eindringlings wiederfindet. Erst nach und nach wird klar, warum sich diese Person ausgerechnet diese Familie ausgesucht hat.
Ein tolles Verwirrspiel, bei dem anfangs völlig unklar ist, worauf es hinauslaufen könnte.

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum

In ihrer Reihe „Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte“ befasst sich Marie Benedict nach „Frau Einstein“, „Lady Churchill“ und „Mrs. Agatha Christie“ in ihrem neuen Roman mit Hedy Lamarr, die den meisten von uns eher als Schauspielerin an der Seite von u.a. Spencer Tracy, Clark Gable, Peter Lorre, Lana Turner und James Stewart bekannt sein dürfte.
Weniger berühmt ist sie als Co-Erfinderin einer Funkfernsteuerung für Torpedos, und eine Weiterentwicklung ihrer Idee zum Frequenzsprungverfahren wird heute in der Kommunikationstechnik bei Bluetooth verwendet.

Leider befasst sich das Buch für meinen Geschmack zu marginal mit ihrer Rolle als Erfinderin.
Der Roman startet im Vorkriegs-Österreich, als sie als aufstrebende Schauspielerin, Jüdin und Tochter einer wohlsituierten Familie in eine Heirat mit Fritz Mandl hineingedrängt wird. Der „Patronenkönig“ unterhält Verbindungen zu Mussolini und später auch Hitler, was ihr Einblicke in die Pläne der Nazis gibt. Als sie die Tragweite der politischen Entwicklung erkennt, führt das zu ihrer Flucht aus Österreich.
Sie entkommt über London nach Amerika, und wir begleiten sie bis zu ihrer sehr erfolgreichen Schauspielkarriere in Hollywood.

Lucy Clarke: One of the Girls

Es sollte ein entspannter Kurzurlaub auf einer wunderschönen
griechischen Insel werden:
Sechs junge Frauen, die sich zum Teil schon seit der Schulzeit kennen, planen den Jungesellinnenabschied vor Lexis bevorstehender Hochzeit und freuen sich auf Sonne, Strand, Wein, gutes Essen und Zeit miteinander. Doch schon auf den ersten Seiten wird klar, dass nicht alle das Wochenende überleben werden.
Dann entfaltet sich in kurzen Kapiteln und schnellen Wechseln aus
unterschiedlichen Perspektiven die Motivation jeder einzelnen, bei der Hen-Party dabei zu sein. Die Frauen sind nicht so vertraut miteinander, wie sie glauben, jede hat ihr Geheimnis und gute Gründe, diese vor den anderen zu verbergen.
Kurze Kapitel, schnelle Wechsel der Perspektive, überraschende
Wendungen, dazu das Panorama einer Villa am Meer, all das macht den Roman zum perfekten Begleiter Ihrer Sommerferien.

Marc Raabe: Der Morgen

Am frühen Morgen wird in Berlin an der Siegessäule in einem Lieferwagen die Leiche einer Frau gefunden, die auf ihrem Bauch die Privatadresse des Bundeskanzlers trägt. Dies ist besonders brisant, weil die Stadt sich auf den G20-Gipfel vorbereitet und die politische Führung gerade jetzt keinen Skandal brauchen kann.
Es wird nicht der einzige Mord bleiben, mit dem BKA-Mann Art Mayer und seine neue Kollegin Nele Tschaikowski konfrontiert werden.
Ein für mich stimmiges Ermittlerduo, mit Ecken und Kanten, aber nicht zu viel persönlichem Hintergrund muss sich mit dem Einfluss der Medien und Fake News auf die Fahndung herumschlagen und sich selbst erst mal zu vertrauen lernen.
Ein spannender Fall, der mit der Vergangenheit nicht nur des (fiktiven) Bundeskanzlers verknüpft ist und der die Frage stellt, wie weit Loyalität gehen kann.
Teil 1 der neuen Thrillerserie von Marc Raabe.

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen

Wien, in den 1960er Jahren.
Die Stadt ist immer noch gezeichnet vom Krieg. Die Erinnerung an die Zerstörung und die Schrecken sind immer noch gegenwärtig, ein Großteil der Bevölkerung lebt nach wie vor in beengten, spartanischen Verhältnissen.
Aber der Neuanfang, der Aufbruch in eine bessere Welt, ist greifbar nah. In Seethalers neuem Roman begleiten wir Robert Simon, der seinen Traum von einem eigenen Café verwirklicht. Hier treffen sich die schlichten Menschen, denen die eigenen vier Wände zu eng sind, und die hier nach einem Tag harter Arbeit einen Ort zum Ausruhen finden.
Es ist ein Buch der leisen Töne. Wir belauschen Gespräche am
Nachbartisch, lassen skurille Charaktere an uns vorüberziehen:
den Maler, der die Käsehändlerin liebt, den Jahrmarktboxer, der von Amerika träumt, den Fleischer von gegenüber, der sich rührend um seinen senilen Vater kümmert.
Simon gibt allen mit seinem Café eine Heimat, und jede Menge Alkohol.
Ohne pathetisch zu werden erzählt Seethaler vom Glück und Unglück der kleinen Leute, denen der Krieg zwar ihre Lieben und ihren Besitz, nicht aber ihre Hoffnungen genommen hat.

T.C. Boyle: Blue Skies

Lassen Sie sich nicht täuschen vom harmlosen Titel "Blue Skies" - Blauer Himmel!
Wir erleben ein Amerika, in dem Kalifornien durch Hitze, Trockenheit und Waldbrände zerstört wird und Florida in sintflutartigen Regenfällen ertrinkt.
Erzählt wird die Geschichte aus Sicht von Ottilie und ihrer Familie: Die Mutter stellt den Speiseplan um auf Insekten, um etwas für den Klimaschutz zu tun. Sohn Cooper ist Entomologe, was ihn nicht vor einer persönlichen Katastrophe schützt. Tochter Cat sieht sich als aufsteigenden Stern in der Influencer-Szene und lebt mit ihrem Verlobten in Florida. Als Trend-Accessoire kauft sie eine
Würgeschlange, was eine Reihe von tragischen Ereignissen in Gang setzt...
Es ist keine typische Dystopie. Wir erleben eine Mittelschichtfamilie, die eigentlich nur alles richtig machen will, um die Welt zu retten, und doch scheitert. Man versucht, sich mit Wassermangel, Stromausfällen, Bränden, Missernten,
Insektensterben, Fluten und durch Termiten zerstörten Gebäuden zu arrangieren und erträgt das mitunter mit viel Alkohol, auch wenn der Wein nach Asche schmeckt. Jede neue Katastrophe, sei es eine ökologische, medizinische oder persönliche, wird uns zum Teil sehr schwarz-humorig präsentiert.
Wie kleine Explosionen beschreibt Boyle eine Tragödie nach der anderen, und wenn ein Protagonist erklärt, jetzt wäre das Gröbste überstanden und es könne nur besser werden, wissen wir, dass ein noch größeres Desaster bereits im Anmarsch ist.
Definitiv keine leichte Strandlektüre, aber für mich ein absoluter
Page-Turner!

Martin Suter: Melody

Ich habe mein ganzes Leben versucht, der Welt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln. Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren.“

In einer feudalen Villa am Zürichsee lebt Nationalrat Dr. Stotz, betagt und schwerkrank, umgeben von Erinnerungen an eine schöne Frau. Melody, seine sehr viel jüngere Verlobte, verschwand vor 40 Jahren, nur wenige Tage vor der Hochzeit.
Zur Sichtung, Ordnung und Evaluierung seines umfangreichen beruflichen wie privaten Archivs beauftragt der alte Herr einen jungen Anwalt. In langen Kamingesprächen und, wie wir es bei Suter kennen, zelebrierten Mahlzeiten und erlesenen Getränken, erfährt Tom Elmer, dass es nicht nur um die Aufarbeitung der politischen Laufbahn seines Arbeitgebers geht, sondern vor allem um eine Liebesgeschichte und deren mysteriöses Ende.
Hat Melody damals freiwillig die Flucht ergriffen? Gab es einen anderen Liebhaber? Oder wurde sie von ihrer muslimischen Familie entführt?
Als Tom Spuren verfolgt, in Sackgassen gerät und neue Fährten findet, ist bald nicht mehr klar, wo die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion verlaufen.

Stephan Ludwig: Der nette Herr Heinlein und die Leichen im Keller

Herr Heinlein ist ein Einzelhändler alter Schule: zuvorkommend,
rücksichtsvoll und traditionsbewusst.
Zusammen mit Marvin, einem jungen Mann mit autistischen Zügen, verwöhnt er die Kundschaft in seinem Delikatessengeschäft, das er in dritter Generation führt, mit ausgesuchter Höflichkeit, Sachkenntnis und seinen Pastetenkreationen.
Aber zwischen Copyshop und Schnellimbiss gehen die Geschäfte in der mitteldeutschen Kleinstadt eher schlecht als recht. Auch das Mietshaus, das er mit seinem dementen Vater bewohnt, wirft keinen Profit ab. Unverschuldet verursacht er den Tod eines neuen und etwas zwielichtigen Stammkunden, den er aus Sorge um seinen guten Ruf im eigens dafür reaktivierten Kühlraum im Keller lagert.
Damit fängt der Schlamassel aber erst an, und der Kühlraum beginnt sich zu füllen...
Ein schwarzhumoriges und unterhaltsames Lesevergnügen vom Autor der "Zorn"-Reihe.

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Nach seinem großen Erfolg mit „Gut gegen Nordwind“ und „Alle sieben Wellen“ haben mich die weiteren Romane des Autors bisher wenig mitreißen können.
Aber sein neues Buch habe ich mit Begeisterung gelesen:
Es geht um zwei privilegierte Familien, die ein somalisches Flüchtlingskind, die Klassenkameradin der pubertierenden Tochter Sophie-Luise, mit in die Ferien nehmen.
Doch der Urlaub in der Toskana mündet in einen Albtraum:
Aayana ertrinkt im Pool.
Hier wird weniger die Frage nach Schuld oder Unschuld gestellt,
sondern wie die einzelnen Mitglieder der Gruppe, und darüber hinaus die Presse und die sozialen Medien, damit umgehen.
Es geht um Moral und (fehlendes) Mitgefühl, um Wahrnehmung
und Wahrgenommen-Werden. Grandios seziert Glattauer die Befindlichkeiten der Grünen-Politikerin Elisa, die um ihre Wahlkampfchancen bangt und nicht nur aus umweltpolitischen Gründen mit der Bahn anreist, des Intellektuellen Oskar, der allen mit seiner Belesenheit auf die Nerven geht, von Weinbauer Engelbert, der sich gerne aus allem heraushalten möchte und Gattin Melanie, die es statt zur etablierten Schauspielerin nur zur Jahrgangs-Marillenkönigin gebracht hat.
Von allen werden die Kinder und die somalische Familie der Verunglückten so gut es geht übersehen bzw. verdrängt.
Originell aufgebaut wie eine Versuchsanordnung, zynisch, sprachlich überzeugend.